Die energiepolitische Beziehung zwischen der EU und Russland: Aus der Abhängigkeit hin zu neuen Perspektiven?
Russland spielt als Lieferant von etwa einem Drittel des in der EU benötigten Bedarfs an Öl, Gas, Kohle und Kernbrennstoffen eine wichtige Rolle. Aber auch Russland selbst ist abhängig von der EU: Mehr als die Hälfte des Staatshaushalts stammt aus Steuern und Abgaben auf Kohlenwasserstoffe, und zwei Drittel der Einnahmen von Gazprom gehen auf Verkäufe in die EU und die Türkei zurück.
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Die Auswirkungen der Ukraine-Krise
Der Konflikt in der Ukraine hat das Vertrauen zwischen der EU und Russland zerstört und die Zuverlässigkeit Russlands als Energielieferant in Frage gestellt. Trilaterale Gespräche zwischen der EU, Russland und der Ukraine könnten hier in gewisser Weise als vertrauensbildende Massnahmen zur Unterstützung des Friedensprozesses dienen. Ein neues Massnahmenpaket, über das allerdings bisher noch keine Einigung erzielt werden konnte, soll zuverlässige Lieferungen bezahlbarer Energie für die EU und die Ukraine bis März 2016 gewährleisten. Bei den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine hat die EU die Aufgabe, zwischen den beiden Ländern, deren Standpunkte immer noch sehr weit auseinanderliegen, zu vermitteln.

Gazprom plant, seine Gaslieferungen über die Ukraine nach Europa bis 2019 einzustellen und stattdessen die Pipeline „Turkish Stream“ bis zur türkisch-griechischen Grenze zu nutzen. „Turkish Stream“ verfügt über eine Kapazität von 63 Mrd. Kubikmeter, was etwas mehr wäre als die Kapazitäten der Pipelines, die durch die Ukraine verlaufen, und durch die derzeit etwa 15 Prozent der von der EU benötigten Gasmenge transportiert werden. Darüber hinaus will Gazprom mit Unterstützung von Shell und E.ON die Kapazität der unter der Ostsee verlaufenden Pipeline „Nord Stream“ auf 110 Mrd. Kubikmeter verdoppeln. Etwaige Investitionen von Gazprom müssten mit EU-Vorschriften in Einklang stehen und den Interessen des EU-Gasmarktes entgegenkommen.

Die EU ist der Ansicht, dass die Modernisierung der Transitroute durch die Ukraine billiger wäre als der Bau der „Turkish Stream“ oder der Ausbau der „Nord Stream“. Wobei beide Lösungen die finanziellen Probleme von Gazprom, die sich bereits durch „politische“ Unterbrechungen der Gasverkäufe an die Ukraine verschlimmert haben, noch weiter verschärfen würde. Auch ist die EU der Ansicht, dass die Energiesicherheit für Europa mit dieser Transitroute erhöht werden würde, da in der Ukraine verfügbare Gasspeicher genutzt werden können, was auf den Routen in der Ostsee oder dem Schwarzen Meer nicht möglich ist. Darüber hinaus könnte die Ukraine Anleihen der European Investment Bank zur Modernisierung ihres Gastransitnetzes in Anspruch nehmen. Die weitere Nutzung der ukrainischen Transitroute käme zudem der angeschlagenen ukrainischen Wirtschaft zugute.

Russland vertritt offiziell die Meinung, dass die Infrastruktur in der Ukraine alt, ineffizient und überholt ist. Aufgrund seiner Streitigkeiten mit der Ukraine über Gaslieferungen und Gaspreise würde Russland seiner Abhängigkeit vom Transit durch die Ukraine lieber ein Ende setzen. Neben den geschäftlichen Gründen, die Russland dazu veranlassen, seine Lieferwege zu verändern, existiert auch noch eine politische Dimension: Putin will seinen Einfluss auf die prowestliche Regierung in Kiew erhöhen. Die Tatsache, dass Gazprom die Vertragspartner vor dem Vorhaben, die geplante Kapazität von „Turkish Stream“ um 50 Prozent zu kürzen, gewarnt hat, legt nahe, dass Russland sich entweder hinsichtlich der Kosten des Projekts Sorgen macht oder sich des zukünftigen Ausmasses der europäischen Nachfrage nicht sicher ist.

Die Ukraine verfügt nicht über genügend Gasvorräte, um durch den nächsten Winter zu kommen, auch nicht durch Gasrückflüsse aus Mitteleuropa: Gebraucht werden 60 bis 90 Mrd. Kubikmeter, zur Verfügung stehen aber nur 12 Mrd. Kubikmeter. Die Ukraine hat daher die Gaspreise stark angehoben und damit für eine rückläufige Nachfrage gesorgt. Darüber hinaus muss das Land die Abschreckungsmassnahmen für Investoren beseitigen, da die derzeitige Lizenzgebühr die Inlandsproduktion verringert. Auch die Privatisierung staatseigener Energieerzeugungsunternehmen wäre sinnvoll. Durch einen gut funktionierenden Gassektor könnte die Ukraine zu einem Energienettoexporteur werden.

Das oberste Ziel der EU (und das Ziel des Konzepts der Energieunion) ist es, den Energiemarkt wie jeden anderen Markt zu gestalten, d. h. die Preise müssen von Angebot und Nachfrage und nicht von politischen Erwägungen abhängig sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen einerseits die Lieferwege verlagert werden, insbesondere vom Kaspischen Meer zum Südlichen Gaskorridor, andererseits muss die Energiesicherheit in Südosteuropa verbessert werden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Pipeline „Turkish Stream“ sich auf die Rentabilität des Südlichen Gaskorridors auswirkt. Im Norden sah sich Gazprom (früher ein Monopolanbieter) durch Litauens neues LNG-Terminal (Flüssigerdgas) bereits gezwungen, seine Preise zu senken.


Russland als Lieferant
Russland hat trotz seiner riesigen Reserven und seinem derzeitigen Produktionsniveau systematische Probleme als Lieferant von Kohlenwasserstoffen. Die Ölproduzenten Rosneft und Gazprom haben zusammen 150 Mrd. Euro Auslandsschulden, die sie dieses Jahr refinanzieren müssen. Die Strategie der Schaffung staatseigener oder staatlich kontrollierter „nationaler Champions“ wirkte sich negativ auf die Effizienz des Sektors aus. Dieser ist in den frühen 2000er Jahren aufgrund privater Investitionen, z. B. von Yukos, gewachsen, verzeichnet aber inzwischen wieder Rückgänge. Mit den richtigen Technologien und Investitionen kann die Produktionsmenge alter, erschöpfter Felder noch gesteigert werden, die staatseigenen russischen Unternehmen erreichen dieses Ziel allerdings nicht. Aufgrund westlicher finanzieller und technologischer Sanktionen musste Rosneft seine Kapitalinvestitionen zurückschrauben, sodass die Zahlen des 1. Quartals 2015 auf einen Rückgang der Produktion um 3 bis 5 Prozent pro Jahr hinweisen. Möglicherweise werden die niedrigen Preise letztendlich (wie im Westen) für einen Innovationsschub in Russland sorgen, da die Unternehmen nach Wegen suchen, die Produktion zu erhöhen und die Kosten zu senken.

Auf dem Gassektor hingegen ist ein Überangebot bei fehlender Nachfrage zu verzeichnen: Russland muss neue Kunden gewinnen. Die europäische Nachfrage nach russischem Gas ist im Jahre 2015 um 8 Prozent gefallen. Im Zeitraum von 2010 bis 2014 sank der Gasverbrauch in Europa um 120 Mrd. Kubikmeter. Der ukrainische Gasverbrauch hat sich aufgrund der schwierigen politischen Situation verringert. Das Ansteigen der russischen Inlandspreise für Gas führte (wie beabsichtigt) zu einem Rückgang der Nachfrage. Dieser Nachfragerückgang von aussen erklärt Gazproms Enthusiasmus hinsichtlich der Erschliessung von Märkten in China. Die Frage ist, ob diese Strategie auf sinnvolle Art und Weise umgesetzt wird.

Die Pipeline „Power of Siberia“, die sich derzeit im Bau befindet, soll zwei neue, aber isolierte Gasfelder in Ostsibirien mit dem einzigen für diese Felder zugänglichen Markt in den nordöstlichen Provinzen Chinas verbinden. Hierbei wird es sich wohl um einen Käufermarkt handeln. Russland diskutiert die Möglichkeit, Gas aus Feldern in Westsibirien - dem Gebiet, aus dem das meiste Gas für Europa stammt - zu fördern, und es nach China weiterzuleiten. Allerdings konnten auch nach 10-jährigen Verhandlungen zwischen Russland und China bisher noch keine Verträge geschlossen werden. Es gibt Unstimmigkeiten darüber, ob China nicht über so viel Gas aus anderen Quellen wie Turkmenistan, frühere Kontakte mit Russland, LNG aus Nahost und anderen Ländern, verfügt, dass es sich den Kauf von mehr russischem Gas nicht leisten kann, es sei denn dieses würde zu einem sehr vorteilhaften Preis angeboten werden. China wird auf lange Sicht aller Voraussicht nach mehr Gas aus Russland beziehen – bis es soweit ist, kann es allerdings noch dauern.

Die Privatisierung des russischen Kohlenwasserstoffsektors würde die Effizienz desselben erhöhen, was allerdings in Konflikt zu der Priorität der Behörden stünde, die anscheinend darin besteht, den Markt und den Geldfluss zu kontrollieren. Sofern man über die richtigen Kontakte verfügt, ist es in Russland zudem immer noch möglich, Barmittel aus Unternehmen, die Verluste einfahren, freizusetzen.

Eine langfristige Perspektive ist für westliche Investoren auf dem russischen Markt von entscheidender Bedeutung. Seit diese sich in den 1980er Jahren für die Sowjetunion zu interessieren begannen, gab es immer wieder turbulente Zeiten, die Beziehungen waren in der Regel aber trotz kurzfristiger Herausforderungen fruchtbar und stabil. Ausserdem zeigt Russland trotz politischer Spannungen und Sanktionen immer noch ein ausgeprägtes Interesse an westlichen Öl- und Gasunternehmen.

Es gibt riesige Landesteile in Russland, die noch erforscht werden müssen, und jede Menge Potenzial zur Entdeckung und Förderung konventioneller Öl- und Gasreserven, sodass Russland noch lange nicht auf Ölschiefer und andere Quellen zurückgreifen muss, deren Erschliessung schwieriger und mit höheren Kosten verbunden ist.

Aus Sicht der großen Ölkonzerne im Westen ist Russland als Teil eines verschiedenartigen Lieferantenportfolios ein wichtiger Partner. Der europäische Markt wird durch eine Vielfalt an Energiequellen - einschliesslich Kohlenwasserstoffen aus unterschiedlichen Gebieten und erneuerbaren Energien - und eine bessere Konnektivität in ganz Europa an Effizienz gewinnen. Ebenso erwarten westliche Energieerzeuger langfristig von Russland eine Diversifizierung der Märkte, insbesondere steigende Lieferungen nach Asien.

Die energiepolitische Beziehung zwischen der EU und Russland ist mit rechtlichen Komplikationen belastet: Altlasten aus Russlands Unterzeichnung des Vertrages über die Energiecharta und dessen anschliessende Rücknahme; Russlands Beschwerde gegen die EU bei der WTO (die behauptet, dass einigen europäischen Ländern Ausnahmen in Bezug auf das Dritte Energiepaket der EU gewährt worden seien, was eine Diskriminierung gegen Russland darstellen würde); EU-Wettbewerbsklage gegen Gazprom. Russland ist vielleicht gewillt, von rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und mit der EU über diverse Unstimmigkeiten zu verhandeln, jedoch ist bei Weitem nicht klar, ob das Land dazu auch in der Lage ist. Darüber hinaus stellen die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und das Fehlen funktionierender Gerichte innerhalb Russlands möglicherweise wichtigere Bremsen für westliche Investoren dar als die diversen Rechtsstreitigkeiten auf internationaler Ebene.

Amerikas Rolle auf dem EU-Energiemarkt
Die amerikanische Meinung zur Energieunion ist im Allgemeinen positiv. Amerika sieht die Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen als politischen Schwachpunkt, der den Entscheidungsprozess in der EU hemmen kann (ein Beispiel sind die schwachen Reaktionen auf die russische Invasion von Georgien im Jahre 2008). Die USA sind bereit, zur Diversifikation von EU-Lieferungen durch LNG beizutragen. Es existieren jedoch immer noch Engpässe im Energienetz Europas, die den effizienten Fluss von Gas und Elektrizität zu Orten, an denen sie benötigt werden, verhindern. Die EU muss sich eher darauf konzentrieren, sicherzustellen, dass jedes Land gut versorgt ist, als sich über Einzelheiten der genutzten Transportwege Gedanken zu machen.
Die Vereinigten Staaten haben als potenzieller Lieferant für die EU die Gasproduktion trotz niedriger Preise weiterhin gesteigert. Eine Reihe von LNG-Terminals wurde genehmigt und ermöglicht den Export von bis zu 80 Mrd. Kubikmetern in die EU pro Jahr, sofern die US-Regierung Genehmigungen hierzu erteilt. Diese Genehmigungen sind zwar nicht vom TTIP abhängig, wenn die USA und die EU allerdings eine Einigung über TTIP erzielen würden, wären ohne vorherige Genehmigung noch mehr LNG-Terminals verfügbar. Amerikanisches LNG ist jedoch nicht die einzige Lösung für den Energiebedarf Europas: Die EU muss Hindernisse zwischen benachbarten EU-Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel zwischen Ungarn und Kroatien und über die Pyrenäen hinweg, beseitigen sowie etablierte Energieunternehmen mit zweifelhaften Beziehungen zu Russland in die Schranken verweisen.

Die EU – ein wachsender Markt
Die EU vollzieht gerade einen Wandel hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, die auf erneuerbaren Energien basiert. In den nächsten 15 bis 20 Jahren wird Gas jedoch als wichtiger Brennstoff Flexibilität garantieren und einen grossen Anteil am Energiemarkt einnehmen. LNG wird voraussichtlich eine Rolle spielen, allerdings nur, wenn die Kosten der Verflüssigung und Wiederverdampfung durch Innovationen gesenkt werden können. Sollte dies nicht der Fall sein, wird LNG mit Gas aus Pipelines konkurrieren müssen. Der Iran könnte sich zu einem entscheidenden Lieferanten für Gas aus Pipelines nach Europa entwickeln, wenn die Sanktionen aufgehoben werden würden (und würde sich wahrscheinlich an das türkische Pipeline-System anschliessen). Europa als Ganzes würde von benachbarten Ländern wie der Türkei und der Ukraine profitieren, die den EU-Besitzstand auf dem Energiesektor, einschließlich des Dritten Energiepakets, übernehmen. Auf diese Art könnte der erweiterte europäische Markt liberalisiert werden.

Bei der Energieunion geht es nicht nur um das Angebot, sondern vor allem auch um die Nachfrage. Energiesicherheit hängt von wettbewerbsfähigen, miteinander verbundenen Gas- und Elektrizitätsmärkten ab (einschliesslich Aggregatoren, die Kunden dabei helfen können, ihre Kaufkraft zu erhöhen). Leider ziehen es zu viele Mitgliedsstaaten - einschliesslich Großbritannien - vor, ihre Energieprobleme auf nationaler Ebene oder mit eingeschränkter Interkonnektivität zu lösen, was höhere Kosten und weniger Effizienz zur Folge hat. EU-Gelder zum Bau von Interkonnektoren stehen zwar zur Verfügung, es besteht jedoch die Gefahr, dass diese nicht komplett ausgegeben werden. Zu viele EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere in Mitteleuropa, verfügen immer noch über lokale Energieversorgungsmonopole und ungesund enge Verbindungen zu Gazprom. Die EU muss daher Praktiken, die eine Liberalisierung des Marktes behindern, bekämpfen.

Russlands bevorzugtes Modell langfristiger staatlich gestützter Gasverträge mit festgelegten Preisen steht mit dem Ziel der EU eines ordnungsgemässen Energiemarktes in Konflikt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die EU keine Energie mehr von Russland kaufen sollte. Wenn Unternehmen wie Gazprom korrekt geführt werden würden, könnten sie zu preisgünstigen und effizienten Lieferanten werden. Der Schlüssel zur Veränderung des Verhaltens von Gazprom liegt darin, die Regeln der EU einzuhalten. Jedes Mal, wenn Russland damit zu drohen scheint, Gas als politische Waffe zu verwenden, oder die Preise für unbeliebte Länder künstlich hoch zu halten, schadet es seinen Aussichten als Lieferant. Die EU braucht sowohl strenge Vorschriften als auch strenge Durchsetzungsbestimmungen, um Gazprom (und andere Unternehmen) in Schach zu halten.